Die Geschäftsführung Ihrer Tochtergesellschaft in Land X sendet Ihnen besorgniserregende Informationen über Probleme mit staatlichen Behörden.
- Möglicherweise werden die Lizenzbedingungen rückwirkend und intransparent geändert.
- Vielleicht schlägt eine neue Regierung eine Gesetzesänderung vor, die die Geschäftsgrundlage Ihrer Investition untergräbt.
- Möglicherweise wird ihr Konkurrenzunternehmen, das einem einflussreichen lokalen Geschäftsmann gehört, bei öffentlichen Ausschreibungen bevorzugt behandelt.
- Vielleicht führt zunehmender Nationalismus zu einer ganzen Reihe von Maßnahmen, die darauf abzielen, ausländische Unternehmen wie ihres aus dem Markt zu verdrängen.
Was ist eine Streitanzeige (Notice of dispute)?
Sie wissen, dass zwischen Ihrem Heimatland und Land X ein bilaterales Investitionsschutzabkommen (BIT) besteht. Das BIT enthält wahrscheinlich eine Klausel, die es einem ausländischen Investor wie Ihnen erlaubt, direkt gegen Land X ein Schiedsverfahren einzuleiten. Aber diese Klausel enthält wahrscheinlich auch einen Passus, der in etwa wie folgt lautet:
„Kann die Streitigkeit innerhalb von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt ihrer Geltendmachung durch eine der Streitparteien nicht beigelegt werden, so wird sie auf Verlangen des Investors der anderen Vertragspartei einem Schiedsverfahren unterworfen.“
(Deutsches Model BIT (2008), Artikel 10 Absatz 2)
Ihrer Meinung nach hat Land X möglicherweise Ihre Rechte aus dem BIT verletzt. Was sollten Sie nun tun?
Viele Unternehmen versuchen regelmäßig, ihre Probleme mit den lokalen Behörden durch direkte Verhandlungen zu lösen. Das ist sinnvoll – es ist die kostengünstigste und effizienteste Option. Viele Unternehmen sind jedoch auch der Ansicht, dass die Geltendmachung eines möglichen Verstoßes gegen das BIT die Verhandlungen beeinträchtigen könnte. Dies führt dazu, dass sie eine Streitanzeige (Notice of dispute) erst dann versenden, wenn sie sicher sind, dass ein Vergleich nicht mehr möglich ist, und sie keine andere Wahl haben, als entweder Verluste hinzunehmen oder ein Schiedsverfahren einzuleiten.
Es gibt einige Gründe, warum es sinnvoll sein kann, eine formelle Streitanzeige („Notice of dispute“, auch „notice of intent” oder „trigger letter” genannt) früher zu versenden.
Zunächst geht es bei der Versendung einer Streitanzeige gerade eben darum, Vergleichsverhandlungen aufzunehmen
Dies wird in der Regel in der BIT-Klausel auch ausdrücklich festgelegt. Aber es ist auch das echte Ziel der Verpflichtung zur Versendung einer Streitanzeige, gefolgt von einer Verhandlungsphase (sogenannte „cooling-off”-Phase). Regierungsbeamte sind grundsätzlich Profis, die das entsprechend verstehen und nachvollziehen.
Zweitens bringt die Streitanzeige die richtigen Personen an den Verhandlungstisch
Oft ist die Gegenpartei in Verhandlungen nicht die zentrale Regierung, sondern die Behörde, zu der das lokale Unternehmen den unmittelbarsten Kontakt hat. Dies wird wahrscheinlich auch die Behörde sein, die die Maßnahme ergriffen hat, gegen die Sie vorgehen möchten. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Behörde über Juristen verfügt, die ein Verständnis für völkerrechtliche Verpflichtungen aus BITs mitbringen.
Manchmal entsteht der Streit aus dem Zusammenspiel mehrerer Maßnahmen oder Entscheidungen, die von verschiedenen Behörden getroffen wurden. Es bedarf oft einer Person, die einen Überblick über die Gesamtsituation des Investors hat, um diese zu verstehen und eine Lösung auszuarbeiten.
Oftmals verhält es sich auch so, dass hochrangige politische Entscheidungsträger einbezogen werden müssen, um eine Lösung für einen Investitionsstreit praktisch zu erreichen. Beamte in Regierungsbehörden sind weder für die Beilegung von Streitigkeiten mit ausländischen Investoren ausgebildet noch werden sie dafür bezahlt.
Eine Streitanzeige landet auf den Schreibtischen des zuständigen Ministers und der auf internationales Investitionsschiedsrecht spezialisierten Regierungsjuristen. In einer gut funktionierenden Regierung wird dadurch sichergestellt, dass Ihre Anliegen ordnungsgemäß geprüft, eingeordnet und die Verhandlungen auf der Grundlage des richtigen Rechtsrahmens fortgesetzt werden.
Drittens reduziert die Streitanzeige den Zeitverlust
Leider teilen Behörden manchmal nicht das Ziel des Investors, eine pragmatische Lösung für einen Streit zu finden, sondern sollen vielmehr die Verhandlungen verzögern und erschweren. Es kann unter Umständen Jahre dauern, bis der Investor nach langem Hin und Her, erkennt, dass es in Wirklichkeit keine einvernehmliche Lösung geben wird. In anderen Fällen sind Behörden schwerfällig und bürokratisch, und selbst wenn eine echte Verhandlungsbereitschaft besteht, kann das Tempo, in dem diese Verhandlungen voranschreiten, sehr langsam sein.
Mit der Zustellung einer Streitanzeige erhält der Investor einen Teil der Kontrolle zurück und legt den Zeitrahmen für die Verhandlungen selbst fest. Sobald klar ist, dass die Verhandlungen nicht zu einem Ergebnis führen, kann der Investor in der Regel sofort das Schiedsverfahren einleiten, anstatt weitere sechs (oder manchmal drei) Monate zu warten, wenn er weiß, dass es in dieser Zeit zu keiner Einigung kommen wird.* Außerdem gibt dies Beamten einen Anreiz, die Verhandlungen ernsthaft fortzusetzen, da sie wissen, dass eine Verzögerung nur dazu führt, dass die Chance auf einen Vergleich vertan und ein Schiedsverfahren eingeleitet wird.
Wie lassen sich potenzielle nachteilige Auswirkungen reduzieren?
Die mit der Einreichung einer Streitanzeige verbundenen Risiken sind im Allgemeinen gering und können effektiv gesteuert werden.
Erstens sind die mit der Einreichung einer solchen Mitteilung verbundenen Kosten niedrig, insbesondere im Verhältnis zu den dargelegten potenziellen Vorteilen.
Zweitens verursacht die Versendung einer Streitanzeige an sich keine zusätzlichen Kosten und begründet keine Verfahrenspflichten. Sie behalten sich das Recht vor, zu einem späteren Zeitpunkt ein Schiedsverfahren tatsächlich einzuleiten oder davon ganz abzusehen.
Schließlich können die möglichen negativen Folgen einer Streitanzeige für laufende Verhandlungen durch den richtigen Ton minimiert werden: Konzentrieren Sie sich auf die Erwartung und den Wunsch nach einer Einigung. Sie können auch in Betracht ziehen, Ihre unmittelbaren Verhandlungspartner vorab über Ihre Absicht, eine Streitanzeige abzugeben, zu informieren und die Gründe dafür darzulegen.
Es gibt keine besonderen Anforderungen an eine Streitanzeige (sofern im BIT nichts anderes vorgesehen ist). Wenn Sie einen Verstoß gegen ein BIT geltend machen, sollten Sie dies in klaren Sätzen tun, unter Berufung auf die BIT-Bestimmungen, deren Verletzung Sie geltend machen, sowie unter Darlegung des relevanten Sachverhalts. Die Streitanzeige sollte zudem die Aufforderung an die Regierung enthalten, Verhandlungen zur Beilegung der Streitigkeit aufzunehmen. Es kann auch sinnvoll sein, in Ihrem Schreiben die Verhandlungsfrist anzugeben, um den relevanten Zeitraum festzulegen und den Blick aller Beteiligten auf das Wesentliche zu richten.
*Es wird nicht empfohlen, das Schiedsverfahren unmittelbar nach dem Scheitern der Verhandlungen ohne formelle Streitanzeige einzuleiten. Es besteht keine einheitliche Rechtsprechung dazu, ob und unter welchen Umständen der für Verhandlungen vorgesehene Zeitraum übergangen werden kann.
